Elternsprechtag

Langsam fallen mir die Augen zu. Neben mir sitzt Lotte. Auch sie kämpft gegen die Müdigkeit. Aber gerade jetzt dürfen wir nicht schlafen. Hier geht es um Lottes Leben und wenn wir jetzt einbrechen, dann ist alles vorbei.

Unsere Schlafzimmerblicke sind auf Frau Schnell gerichtet. Lottes Deutschlehrerin. Sie redet. Frau Schnell redet. Frau schnell redet sehr langsam. Unfassbar langsam, redet Frau Schnell. Wir hören schon seit 20 Minuten nicht mehr zu. Sitzen wir schon 20 Minuten in diesem kargen Klassenzimmer? Ich weiß es nicht. Irgendwo zwischen „… ihre Tochter ist unkonzentriert…“ und „… fürs Leben lernen…“ ist mir das Zeitgefühl abhanden gekommen. Ich kann sehen, dass Frau Schnell ihren Mund bewegt. Ich blinzele hinüber zu Lotte und sehe ihren Kopf gefährlich zur Seite wegsacken. Ich kneife sie ins Bein. Lotte schreit kurz auf. Frau Schnell interpretiert diesen Laut als intensives Interesse. „… und demnächst schreiben wir dann die Klassenarbeit.“ Sie sagt es in Zeitlupe. Zäh tropfen die Worte aus ihrem Mund. Ich gebe Lotte zu verstehen, dass sie mich auch kneifen soll. Fest.

Frau Schnells Sprachapathie wird nur durch ihre träge Intonation übertroffen. „… die Klassenarbeit wird ein Aufsatz sein. Es geht um spannendes Erzählen…“. Lotte grunzt. Ich muss mir ein müdes Lächeln verkneifen. Stattdessen nicke ich mit dem Kopf und hoffe, dass mein Gesichtsausdruck nicht ganz so leer ist, wie ich mich gerade fühle. Aber Frau Schnell fällt nicht auf, dass wir dem Tode näher sind als dem Leben. Frau Schnell hat ihr ganzes Leben lang in leere Augen gestarrt. Woher soll sie wissen, wie lebendige Kommunikation aussehen kann. Lottes Arm zuckt im Halbschlaf. Gleich ist es soweit. Lottes Kopf wird mit einem dumpfen Schlag auf die Tischplatte fallen. Ich nehme all meine Kraft zusammen und schiebe meinen Schal an die Stelle des Tisches, wo der Aufprall vermutlich stattfinden wird.

Ich muss mich konzentrieren. Auf etwas spannendes. Hinter Frau Schnell steht ein überdimensionales Geodreieck. Das ist spannend. Alles ist spannender als Frau Schnell. Ich stelle mir vor wie unglaublich groß die Mathlehrer an dieser Schule sein müssen. Das Geodreieck ist wirklich riesig. Und spannend. Ich finde ein großes Stück regloses Plastik unterhaltsamer als Lottes Deutschlehrerin. „… gut erzählen können. Das ist so wichtig…“. Ich stimme ihr zu. Mein Kopf nickt schon die ganze Zeit automatisch – immer an den Stellen, an denen ich das Ende eines Satzes vermute. Frau Schnell verzichtet auf Sprechpausen. Die Übergänge zwischen ihren Worten verschwimmen vor meinen Ohren. „… diedeutschespracheisteinwunderbaresintrument…“. Tonk. Lotte ist ausgestiegen. Ich schaue hinüber zu ihr. Friedlich ist sie entschlummert. Ihr Gesicht liegt, mir zugewandt, auf meinem Schal. Sie lächelt friedlich. Ich beneide sie.

Frau Schnell hat es nicht mitbekommen. Sie monologisiert und spart dabei weiter mit Klangfarbe. Ihre Stimme ist hörbarer Sichtbeton. Mir fällt auf, dass sie spricht wie das Klassenzimmer aussieht. Grau und langweilig. Frau Schnell ist konsequent. Sie und ihr Klassenzimmer. Sie sind eins geworden. Gemeinsam sind sie ein Musterbeispiel für deutsche Bildungsarchitektur. Was die Unis produzieren schaut so aus, wie das was die Schularchitekten bauen lassen. Quadratisch. So soll sie sein, die Bildung. Wie die Köpfe die sie formt. Praktisch? Manchmal. Gut? Selten. Aber niemals sperrig. Gerne berechenbar und konform. Lotte schlummert. Ich nicke noch, aber mir ist das Lächeln vergangen. „… Schulesolljaauchspassmachen…“. Mir ist schleierhaft woher Frau Schnell den Mut nimmt, um von „Spaß“ zu sprechen. „…habensienochfragen“? Lotte rettet mich mit einem unwirschen Grunzen, bevor ich etwas gereiztes entgegnen kann.

Sie ist aufgewacht als Frau Schnell aufgehört hat zu reden. Früher ist sie auch immer aufgewacht, wenn das Auto ausgegangen ist. Ich danke Frau Schnell für ihre wertvolle Zeit. Lotte wischt mit ihrem Ärmel verstohlen eine kleine Speichellache von der Tischplatte. Wir verlassen das Klassenzimmer. Lotte hält meine Hand als wir zusammen durch den Sichtbeton-Gang auf den Ausgang zuwanken.

7 comments

  1. Perfekt beschrieben!
    Aber wartet nur – irgendwann taucht sie noch mal auf – jede Klasse hat sie: DIE Mama, ja die, die tatsächlich noch eine Frage hat, während wir anderen bereits mit den Stühlen rumrutschen und gedanklich schon auf dem Gang sind 😉
    Liebe Grüsse, Claudia

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    1. Natürlich, es gibt immer jemanden, der noch eine Frage hat. Meistens zu einem Thema, das an demselben Abend schon viel zu lange in Grund und Boden geredet wurde. Sie ziehen mit ihrer „noch eine Frage“ instinktsicher genau das kleine Steinchen aus dem mühsam errichteten Diskussionsergebnis heraus, das den ganzen Bau einstürzen lässt, sodass von Null auf alles neu verhandelt werden muss (wobei man natürlich die ganzen Sackgassen der ersten drei Durchgänge akribisch nochmal durchgeht). Und wenn es schon viertel nach zehn ist, da sind die völlig schmerzfrei…

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  2. Ich musste richtig Schmunzeln. Super geschrieben. Das schlimme an solchen Lehrern ist ja,dass sie im Unterricht genau so reden. Da habe ich mich schon immer gefragt wie Leute es tatsächlich schaffen, aufmerksam zuzuhören und sogar noch etwas dabei lernen.
    Liebe Grüße
    Tashi

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