Geflüchtet

Auf dieser Straße sind früher riesige Panzer gerollt. Jetzt rollen wir mit einem riesigen Reisebus darüber. Am Straßenrand stehen in regelmäßigen Abständen Warnschilder die uns erklären, dass wir die Straße besser nicht verlassen sollten. „Lebensgefahr. Kampfmittel. Betreten Verboten!“. Es steht dort in mehreren Sprachen. Auch Arabisch ist dabei, unten ganz links in der Ecke. Willkommenskultur. Hinter den Warnschildern ein tödlich langweiliger Tannenwald in matschigem Weiß. Wir sind auf dem Weg in ein Flüchtlingscamp. Mit 60 Jugendlichen aus acht europäischen Ländern. Wir haben in den zurückliegenden Tagen über dieses Europa gesprochen. Ein Europa in dem die Baumärkte wieder mehr Stacheldrahtzäune verkaufen und Selbstschussanlagen Hochkonjunktur haben. Ein Europa in dem viele behaupten, dass sie das ja wohl noch sagen dürfen. Und ein Europa in dem viele das auch noch hören wollen.

Der Wald liegt hinter uns und in dem Nirgendwo vor uns liegt ein Schlagbaum quer über der Straße. Der Security-Mann mit dem Walkie-Talkie im Anschlag schüttelt mir die Hand: „An der Kreuzung rechts und dann wieder rechts. Halle 26 auf der rechten Seite.“ Rechts ist die neue Himmelsrichtung. Der Security-Mann schaut sich nach einem anderen Security-Mann um: „Zaunkontrolle, Jan!“ Weg sind sie. Im Stechschritt. Nach dem Schlagbaum kommen die Baracken. Irgendwo da draußen spricht bestimmt jemand von einem „Lager“ und beschwört damit 71 Jahre alte Zeitgeister.

Vor der Halle spuckt der Bus uns aus. Es ist arschkalt und arschgrau. An den Dachrinnen hängen Eiszapfen. Niemand weiß so richtig wohin mit sich. Wir schauen extra betreten drein, damit ja niemand auf die Idee kommt wir wären Flüchtlings-Touristen. Wir sind gekommen, um zu begegnen und gerade weiß niemand mehr so genau, ob das eine gute Idee war. Ob man uns begegnen will. Wir sind immerhin Europäer. Wir rufen seit Monaten: „Wir sind das Volk!“ und verhelfen dem Stacheldraht zu gesellschaftlicher Akzeptanz. Zehn Minuten später umringen uns Mitarbeiter des DRK. Ibrahim klopft mir auf den schamgebeugten Rücken: „Na?! Wollen wir uns jetzt ein paar Flüchtlinge angucken?“. Er lacht. Es war nur ein Scherz. Wir sind verschissene Touristen.

Wir werden aufgeteilt. Kleine europäische Gruppen bekommen Einblicke in das Leben in einer „Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende“. In einem spartanischen Klassenzimmer erzählen Geflüchtete von ihrer Heimat. Sie erzählen von ihren Brüdern, die jetzt tot sind. Von ihren Häusern, die jetzt nicht mehr stehen. Und sie erzählen von ihrer Flucht.

Ein junger Afghane möchte Profi-Fussballer werden. Er hat früher in der Nationalmannschaft seines Landes gespielt. Ich kenne jetzt den gesamten Kader der afghanischen Nationalmannschaft. Er umfasst ca. 132 Spieler. Die Hälfte dieser jungen Männer sind Söhne des Bürgermeisters von Kabul. Es gibt viele Wahrheiten. Und es gibt viel Verzweiflung. Und alle lügen. Das Volk lügt, um Grenzen zu ziehen. Geflüchtete lügen, um diese Grenzen zu überwinden.

Später stehen wir in einer leeren Baracke und schauen uns die Zimmer zukünftiger Flüchtlinge an. Auf dem Boden ranziger PVC-Belag. Von den Wänden blättert hier und da die Tapete. In 24 Quadratmeter großen Räumen stehen 5 Stockbetten. „Wo sind die Schränke?“, will eine Tschechin wissen. Es gibt keine. In ein paar Wochen werden in diesem Raum zehn Menschen wohnen. Die meisten ohne große Perspektiven und alle ohne Schränke. „Ich würde schätzen, dass wir ca. 30 Prozent der Leute problemlos integrieren können. Die Integration der nächsten 30 Prozent wird teuer werden und die letzten 30 Prozent werden wir nicht integrieren können“, erläutert der pensionierte Lehrer mit dröhnender Stimme. Ich will lieber nicht wissen, was seiner Meinung nach mit den letzten 10 Prozent passiert.

Wir sind zurück in der Halle und begegnen einander. Ohne viele Worte. Es wird getanzt. Auf dem nassen Fussballacker wird die europäische Auswahl privilegierter Kicker von der afghanischen Nationalmannschaft vernascht. Alle scheinen glücklich. Wenigstens für einen kurzen Moment. Die Flüchtlinge haben uns Touristen zu Menschen gemacht und wir Touristen haben Flüchtlinge zu Menschen werden lassen. Englisch wird weniger gesprochen als gestikuliert. Smartphones werden gezückt und wir zeigen uns gegenseitig unsere Familienfotos. Junge Männer und Frauen flirten miteinander. Es ist ein wenig wie es sein sollte.

Neben mir steht Ibrahim in seinem roten DRK-Fleece: „Ich war 15 Jahre lang Qualitätsmanager bei Mercedes. Ich habe gekündigt, um hier arbeiten zu können. Ich hab‘ zwar keine Kohle mehr, aber abends kann ich wieder in den Spiegel schauen.“ Wir stehen mit dem Rücken zur Wand und schauen uns um. Es ist laut und fast könnte man meinen es sei wirklich fröhlich. Aber das ist es nicht.

Als wir uns verabschieden werden wir wieder zu Touristen. Und sie werden wieder zu Flüchtlingen. Im Hintergrund steht ein syrischer Politikwissenschaftler. Er lehnt an der Hallenwand. Vorhin hat er mir seine Frau und seine drei Kinder gezeigt. Wir fahren jetzt nach Hause.

4 comments

  1. „Wir sind verschissene Touristen“. Damit hattest Du mich. Gönner. Gaffer. Fähnchenschwinger. Willkommensbrüller. Vergesser. Das sind wir. Du hast das Menschliche zurückgebracht. Toller Text.

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