Zwangsheirat

Wir sitzen in der Küche am Tisch. Marie und ich. Und keiner von uns beiden möchte hier sein. Zwischen uns liegt ein großer Haufen ungemachter Hausaufgaben. Es ist 20.30 Uhr. Und es ist Dienstag. Wir sind beide müde. Aber ich bin heute der autoritäre Vater. Der Rächer verschwendeter Zeit und ununeingelöster „Ich-mach-das-später-Versprechen“. Dabei ist Marie längst weg. Sie hat ihren Körper schon vor einer halben Stunde verlassen. Sie hat dem Autopiloten das Steuer in die Hand gedrückt und in den Flugmodus geschaltet. Genervt grunzt sie jetzt ganz automatisch. Ich habe alle Register gezogen und jeden Vater-Stereotypen bedient. Marie und ich hassen mich heute Abend völlig zurecht.

„Jetzt konzentrier dich! das ist nur Flächenberechnung und keine Atomphysik!“. Ginge es in dieser Welt gerecht zu, dann müsste jetzt ein Pflasterstein durch das Küchenfenster segeln und mir den Schädel zertrümmern. „Das ist ja keine Atomphysik!“. Es sind Väter schon für weniger bescheuerte Sprüche gestorben. Noch gebe ich mich der Illusion hin, am längeren Hebel zu sitzen. Als ich in Maries Gesicht schaue, sehe ich gerade noch wie ihr Hirn runterfährt und in den Stand-By Modus geht.

Dabei hat alles so harmlos begonnen. Damals. Mit der Grundschule. Und jetzt? Jetzt ist weiterführende Schule angesagt und ich entwickle ungesunden, symbiotischen Ehrgeiz während meine Tochter ihren langsam verliert. Marie rechtfertigt ihre „noch befriedigenden“ mathematischen Fähigkeiten mit: „Die anderen hatten auch schlechte Noten in der Mathearbeit!“. Aha. Die Hälfte der anderen spricht Zuhause eine andere Sprache und ist oft sich selbst überlassen. Da sitzt Abends sicher kein Vater in der Küche und klopft dämliche Sprüche.

Wir streiten uns noch eine Weile bis ich kapituliere und Marie wütend aus der Küche stürmt. In der Ferne knallt eine Badezimmertür. Da sitze ich und starre trübe auf Vokabeln und ein paar unvollendete Multiplikationsaufgaben. Ich will doch nur, dass sie sich nicht irgendwann mit Bauchschmerzen in die Schule schleppen muss. Das macht Schule nämlich. Bauchschmerzen.

Oh, the irony. Bei mir war es ganz ähnlich. Ich habe die Schule gehasst. Das war vor 15 Jahren. Und nun hasst mich die Schule zurück. Wir haben uns beide nicht verändert. Die Schule und ich. Was für eine traurige Erkenntnis. Wir stehen uns gegenseitig auf den Kriegsfüßen. Damals hat mir Schule zu verstehen gegeben ich sei ein bißchen dumm, weil ich mit Mathe und Latein nicht warm wurde. „Ungenügend“. Mit 11 habe ich das erste Mal nicht genügt. Das Diktat von Frau Mehrmagen-Schmadtke hatte mir das Genick gebrochen. Danach habe ich mich ein paar Jahre lang gegen die implizite Behauptung gewehrt, dass Intelligenz etwas mit Schulnoten zu tun habe. Jetzt bin ich 34 und Rechtschraibung funktioniert inzwischen ganz gut. Ich war nicht unbeleerbar. Interpunktion allerdings steht auf einem anderen linierten Blatt. Bis heute sind meine einzige Regeln zur Kommasetzung Atemnot und Seitenstechen.

Hinter mir betritt Ida gut gelaunt das Zimmer. Vor zwei Stunden habe ich sie auf ihr Zimmer geschickt. „Geh dich umziehen!“. Sie hat dieses Zielvorgabe nur knapp verfehlt. Oben ohne setzt sie sich auf den Klavierhocker und verkündet laut, dass sie jetzt noch üben müsse. Es ist 20.45 Uhr. Ich hatte gedacht, dass sie schon seit einer Stunde schläft. Sie haut in die Tasten und verfehlt sämtliche Töne mit großer Leidenschaft. Niemand weiß so genau wie Ida, was ich nach einem langen Tag brauche.

Ich raffe mich auf und tröste mich mit dem Gedanken, dass ich neben Marie noch drei weitere Kinder habe. Addiert ergeben diese Kinder 42 Schuljahre. Zweiundfuckingvierzig. Der Sinn meines Lebens – die Schulkarrieren meiner Lendenfrüchtchen. Ich glotze dumpf in das Green-Line Workbook. Der Grammatikteil grinst mir höhnisch ins Gesicht. Wir konnten uns damals schon nicht ausstehen. Aber weglaufen ist keine Option. Auswandern auch nicht. Für die Kinder stimme ich einer Zwangsheirat zu. Heulend und zähneklappernd. Lächelnd schleift mich die Schule zum Traualtar, während Ida unserem Klavier einen grausigen Hochzeitsmarsch entlockt. Ich weiß schon heute, dass ich in 42 Jahren die Scheidung einreichen werde.

7 comments

  1. Huhu 🙂

    Soooo herrlich – ich könnte mich wegschmeißen. 😀 Was mich aber erschreckt: Arbeiten die Kids echt noch mit diesen grausigen Green-Line Workbooks? Die hatten wir damals auch schon – und ich hab sie gehasst. Und Mathe auch. Und Lateien. Und Physik. Und Chemie. *seufz*

    Ich wünsche dir viiiel Kraft für die nächsten zweiundfuckingvierzig Jahre – und denk immer dran, es gibt noch mehr Mütter und Väter, die ebenfalls in Gedanken mit dir leiden. ❤ 😀

    Liebe Grüße,
    Katja

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