Wolfsmenschen

So wie einst Maharishi Mahesh Yogi John Lennon und die restlichen Beatles zu neuer Weisheit und Einsicht führte, so werde ich heute meine Tochter unterweisen. Ich habe beschlossen, Lotte die Unbarmherzigkeit dieser Welt zu zeigen. Eine Welt in der ihr niemand etwas schenken wird, in der sie um jeden Zentimeter wird kämpfen müssen. Die Ellenbogengesellschaft die schiebt, schubst und drängelt, um nutzlose irdische Güter zu horten. Ich bin Lottes Maharishi Mahesh Yogi.

Da trifft es sich gut, dass sich die gesamte Elite der Ellenbogengesellschaft heute in und um den Discounter unseres Vertrauens zusammenrotten wird. Es ist der letzte Donnerstag in den Sommerferien. Heute kommen die Schulsachen für die neue Bildungssaison auf den Wühltisch.

Als Lotte und ich auf das umzäunte Discounter-Areal rollen, sind die besten Stellplätze bereits vergeben. Wir sind zu spät. Die Reichen und Schönen sind schon da. Seit an Seit ankern riesige schwarzlakierte Autoschiffe in den exklusivsten Parkbuchten – mit Sternen auf und massig PS unter den Motorhauben. Schnippchenschläger und Schnäppchenjäger. Ich quetsche mich mit meinem 22 Jahre alten Volvo-Kombi zwischen zwei dieser blingblinkenden Luxuskarossen. Lotte und ich müssen notgedrungen über die Sitzbänke nach hinten klettern, um das Auto durch den Kofferraum zu verlassen.

Am Eingang werden wir vom Sicherheitspersonal kurz abgetastet. Offensichtlich hat man aus den Zwischenfällen der letzten Jahre gelernt. “Siehe und lerne, mein Kind!”, raune ich meiner Tochter zu als ich ihr den Fahrradhelm auf den Kopf setze. Dann gleitet die Tür auf…

An ganz normalen Tagen geht es im Eingangsbereich nur um Kaffee und Kekse. Heute lagern sich die leicht Verwundeten zwischen unfair gehandelten Genussmitteln. Es sind diejenigen, die hoffen, nach einer kurzen Pause wieder in den Kampf um das Bildungszubehör einzugreifen, um vielleicht doch noch eines der günstigen DIN A4 Hefte ergattern zu können. Ein kariertes natürlich. Mit ohne Rand.

Lotte und ich steigen über die wimmernden Leiber hinweg und bewegen uns langsam auf die Wühltisch-bestückte-Non-Food-Artikel-Sperrzone zu. Wir kommen an den Spirituosen vorbei. Da steht ein kleiner Mann mit irrem Blick und stopft der Wodkafuselflasche eine seiner Tennissocken in den Hals. eine seiner Tennissocken in den Hals einer Wodkafuselflasche. Weiter vorne streiten sich zwei Kundinnen (aka Königinnen) lauthals am Backautomaten. Ganz offensichtlich geht es um die Blechdose mit den Wachsmalstiften, an der die beiden ziehen und zerren. Die Klügere gibt plötzlich nach. Und die dümmere stürzt mit einem spitzen Jubelschrei zu Boden. Unglücklich. Flach und hart auf den Rücken. Mit einem rasselnden Pfeifen entweicht alle Luft aus ihren Lungen. Und während die eine sich am Boden krümmt und nach Luft ringt, hat die andere genügend Zeit, um sich eines dieser steinharten Weizen-Baguettes aus dem Backautomaten zu ziehen. Lotte hält meine Hand fest umklammert. Ich schiebe meine Tochter an diesem grausigen Nebenschauplatz vorbei und halte ihr dabei die Augen zu, damit sie nicht mitansehen muss wie ein Mensch mit einer Backware totgeprügelt wird.

“Papa, ich will nach Hause. Ich gehe auch mit Schiefertafel und Griffel in die Schule!” Nein. Ich will, dass sie alles sieht und niemals vergisst. Wir stehen jetzt im Auge des Sturms. Hier wird die Hobbessche Dystopie Realität. An einem Donnerstagmorgen im 21. Jahrhundert zeigt der Mensch, dass er dem Naturzustand nie entwachsen und noch immer des Menschen Wolf ist. Hier zertrümmern sich Mütter mit Bürolochern gegenseitig die Schädeldecken, stechen sich mit Jumbo-Buntstiften die Augen aus und versuchen sich mit Geodreiecken die Köpfe von den Schultern zu säbeln. “Komm. Jetzt hast du genug gesehen.” Ich führe meine verstörte Tochter den Gang entlang. Dem Ausgang entgegen. Vor der hohlen Kassengasse sitzt ein alter Feldscher mit Knochensäge und Notfallkoffer. Er ist gerade dabei, einer schreienden Großmutter das Schienbein wieder ins Kniegelenk zu kurbeln. Sein blutdurchtränkter Kittel zeugt von den Grabenkämpfen in unserer Ellenbogengesellschaft. “Brauchen sie was? Sind sie gebissen worden? Ich habe noch Tetanusimpfungen übrig.” Wir schütteln die Köpfe.

Als wir wieder auf dem Parkplatz stehen, brennen bereits die ersten Autos. Der Sicherheitsdienst hat das Schlachtfeld längst geräumt. Wir klettern wieder zurück ins Auto und verlassen diesen Ort des Schreckens. “Ich habe dir das gezeigt, damit du etwas lernst…!” Lotte nickt. “Ja, Papa. Das nächste mal müssen wir früher da sein. Sonst sind all die guten Sachen schon weg.” Mein Name ist Maharishi Mahesh Yogi und neben mir sitzt Yoko Ono – wir haben noch viel Arbeit vor uns.

3 comments

  1. Genial! Als wäre man am Schlachtfeld des Schulzeugausverkaufs live dabei!
    Ab heute werde ich Albträume von jenem Tag haben, an dem meine Kinder der friedlichen Kindergartenidylle entwachsen sein werden und eines Morgens zu mir sagen: „Mama, wir müssen noch Schulsachen kaufen bevor die Ferien aus sind!“

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