
“Ey Digga, du muss’ raus deinem Loch!”. Vor mir steht Pinar und gibt mir zum Abschied Ratschläge. Sie ist 18. Seit heute. Pinar kommt aus Berlin und ist eine Mischung aus Bushido und Ludwig Wittgenstein. Eine kluge Frau, die mühelos zwischen Straßen-Soziolekt und Akademiker-Sprech hin und her wechselt. Eliza Higgins-Doolittle. Sie hat gerade Abitur gemacht. Ein gutes wahrscheinlich. Wir haben eine Woche zusammen gearbeitet. Zusammen mit 19 sehr außergewöhnlichen Menschen, haben wir über Sinn, Erfolg, Motivation und unkonventionelle Lebensentwürfe nachgedacht. Ideen visualisiert und Filmprojekte daraus gemacht. An einem wunderschönen Ort in Schleswig-Holstein, den irgendein Graf einer dänischen Prinzessin zum Geschenk gemacht hat. Damals als Ritter noch ihre Klingen kreuzten und die Freimaurer das Edle im Unedlen suchten.
Jetzt ist die Woche vorbei. Und Pinar steht da und sagt mir, dass ich dringend umziehen müsse. In eine Stadt, weil das Land nämlich ein scheiß-langweiliger Ort sei, Digga. Wir stehen zwischen einem wunderschönen Schloss und der Schlei. Ein Brackgewässer, das sich nicht entscheiden kann ob es Salz- oder Süßwasser sein möchte. Es hat sich für beides entschieden. Pinar auch. Vielleicht wäre sie gern Mainstream. Äußerlich gibt sie sich alle Mühe. Sie ist hübsch und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihre Klamotten dem Zeitgeist nicht unangenehm ins Style-Auge fallen. Aber wenn sie den Mund aufmacht, dann ist es vorbei mit Einheitsbrei. “Hey, Pinar. Kommst du mit Tennis spielen?” Vier Mädels steuern mit Fragezeichen in den Gesichtern und gelben Filzkugeln in den Händen auf uns zu. “Nee, danke mir geht’s gut, Digga! Ich will jetzt Hakenkreuze an die Wand sprühen!”, sie nickt in Richtung des alt-ehrwürdigen Schlosses mit den weißgetünchten Wänden, “Bissu gut in rechte Winkel?” Innendrin krampfe ich vor Lachen. Als ich mir die Tränen aus den Augen gewischt habe, sind die Mädels ohne Pinar weitergezogen. Auch Pinar ist weg. Wahrscheinlich gibt es drüben in der Cafeteria Kuchen. Ich mache mich mit meinen Kollegen ebenfalls auf den Weg zum Backwaren-Buffet.
Wir sind zu spät. Nur ein paar Krümel und die vollständig erhaltene vegane Kuchen-Alternative zeugen von dem üppigen Feuerwerk aus Eiern und Salz, Butter und Schmalz. Ein paar traurige Kids lungern, leise hoffend, noch im Raum herum. Und tatsächlich gleitet die Küchentür erneut auf und eine junge Bedienstete bringt warmes, süßes Backwerk unters heißhungernde Volk. Am Marmorkuchen treffe ich Isbah. Sie ist ebenfalls in meinem Projekt gewesen. Sie ist 17. Natürlich ist auch sie sehr intelligent, aber mit Sido kann sie nichts anfangen. Sie ist Diplomatin von Beruf und hat immer ein offenes Lächeln auf den Lippen. “Hey, Isbah. Wie war die Meditation gestern?”, frage ich sie. Am Abend zuvor waren alle Teilnehmenden zu einer Selbstbesinnungs-Einheit ins Hauptzelt geladen worden. “Ich sollte einen Gegenstand meditieren. Da habe ich 10 Minuten einen Pfosten angeschaut. Aber der Pfosten hat mir nichts gesagt!” Fast möchte ich ihr sagen, dass es nicht ihre Schuld ist und das Pfosten grundsätzlich nur sehr wenig sprechen und wenn sie es tun, dass sie selten etwas zu sagen haben. Ganz unabhängig davon, ob ein Pfosten aus Holz oder aus Mensch besteht. Aber bevor ich Trost spenden kann, ist Pinar wieder da. “Ey Digga. Ich hab zehn Minuten ´nen Hässligen angestarrt. Das war auch nich’ geil!” Isbah nickt verständnisvoll und ich pruste Kuchenkrümmel durch die Nase.
Es sind so viele Menschen dort. An diesem Ort, der weder süß noch salzig ist. Interessante Menschen, Brackwasser-Menschen. Mischungen aus verschiedensten Strömen. Menschen, die etwas zu sagen haben, obwohl sie noch sehr jung sind. Menschen, die vielleicht lieber konformer unterwegs wären und gerade erst anfangen zu begreifen, dass die Stromlinie nur ein Strich ist. Eindimensional. Eintönig. Es sind Jugendliche, die das Potential haben nicht Rädchen, sondern Sand im Getriebe zu werden. Eine Woche haben wir nachgedacht. Uns Dinge erzählt. Lustige Dinge. Wichtige Dinge, gute Dinge – über all das denke ich nach als ich mit meinen Kollegen im Auto sitze und zurück fahre in das scheiß-langweilige Loch aus dem ich gekommen bin, Digga.
Okay, der war gut. Meistens verstehe ich nicht wirklich wovon Du schreibst, aber das hier hab ich kapiert. Schöne Metaphern und so.
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Schlaues Mädchen. Westerwald is schon n ziemliches Loch. Aber eins, in dem man schreiben lernen kann. Über den brackigen Norden sagte ein guter Künstler mal, in ähnlichem Sinne: Der Teich trocknet vom Rand aus.
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