
Lotte hat den Jackpot geknackt. Akute Blinddarmentzündung. Die Seitenkrankheit. Ich bin immer davon ausgegangen, dass diese Krankheit längst aus der Mode gekommen ist. Alte Menschen haben darüber geredet, in historischen Romanen wird daran gestorben, aber heute? Gibt es da nichts Schickeres? Woran erkrankt man dieser Tage, wenn man Wert auf sein Image legt? Lotte hat sich also die Seite gehalten, gekotzt und weh geklagt. Die Symptom-Suche auf Google ergibt Krebs-Aids im Endstadium. Irgendwie halten das alle Beteiligten für eher unwahrscheinlich und wir fahren in das nächstgelegene Krankenhaus.
Der russische Bär im grünen Kittel entpuppt sich als Notarzt. Er zieht und drückt an meiner Tochter herum. Schüttelt sie kurz durch. Lotte erblasst vor Schmerz. Der Bär nickt und brummt. „Chist Blinddarm. Muss ins Krankenhaus!“. Ich schaue mich um und stelle kleinlaut fest, dass wir ja bereits in einem Krankenhaus sind. Der Bär schüttelt traurig den Kopf. „Wir nicht chaben Werkzeug für Kinder!“ Er schaut traurig auf seine riesigen Pranken. Ich bezweifle, dass es überhaupt „Werkzeug“ in seiner Größe gibt. Wir verabschieden uns schnell, lassen den melancholischen Russen in seiner Höhle zurück und ziehen weiter.
Die Kinderklinik versprüht den Charme der 70er Jahre. Ein riesiger Komplex erbaut um Krankheiten zu besiegen und nicht um Kranke zu heilen. Kalte Sichtbetonplatten. Zweckmäßig aufeinandergeschichtet. Ein paar hundert Wände. Ein paar tausend Toiletten. Fertig. Damals nannte man das Architektur. Gut, sie haben den Eingangsbereich modernisiert. Wer hineinkommt sieht Kompetenz und Ordnung. Dahinter geht es zurück in die Helmut-Schmidt-Ära. Eine Zeitreise auf ausgeblichenem Linoleum.
Lotte wird erneut untersucht. Bekommt einen Zugang gelegt. „Gar nicht so einfach, wenn man keine Venen hat“. Der Kinderkrankenpfleger lacht wie eine Kreissäge. Er heißt Ralf. Ralf hat immer gute Laune und das Feingefühl eines Traktors. „Entspann dich, Lotte. Obwohl…“, Ralf denkt kurz nach, „das kann man einem Schwein auf der Schlachtbank auch schlecht sagen…“ Er lacht sein Kreissägen-Lachen. Ich mag ihn. Lotte nicht. Komisch. Diese Teenager haben einfach keinen Humor. Der Schwesternschülerin im Hintergrund ist Ralf peinlich. Sie nestelt an Spritzen und Urinproben-Bechern herum oder starrt betreten Löcher ins Linoleum. Irgendwann steht eine Ärztin im Zimmer. Sie ist nett und langweilig. Als sie Lotte die nächsten Schritte auf dem Weg zur OP erklärt hat, ist meine Tochter fast eingeschlafen. Der Anästhesist ist jetzt eigentlich überflüssig, kommt aber trotzdem vorbei. Irgendwo draußen im Flur lacht die Kreissäge über ein weiteres Schwein.
„Hallo Lotte. Ich bin bin Hannes. Wie alt bist du?“ Lotte hat Schwierigkeiten ihre Gedanken in dem Chaos aus Schmerz und Tran zu ordnen. „Sie ist 11!“, eile ich zu Hilfe. Jetzt ist Lotte wach, blinzelt mich böse an und korrigiert ihren ignoranten Vater. „Ich werde nächstes Jahr 13.“ Hannes lächelt, notiert sich noch ihr Gewicht und fragt nach schrecklichen Vorerkrankungen. Ich spare mir den Krebs-Aids-Scherz. Ralf hätte ihn bestimmt lustig gefunden. Ein paar Stunden später ist alles vorbei. Lotte hat jetzt keinen Blinddarm mehr. Sie wirkt älter ohne den entzündeten Wurmfortsatz. Die Nächte verbringt sie allein im Krankenhaus und auch tagsüber muss sie nicht mehr rund um die Uhr bewacht und behütet werden. Nächstes Jahr wird sie schon 13.
Komisch, wie schnell sie gross werden (ob mit oder ohne Blinddarm)….
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Ich mag Ralf auch! Super geschrieben! Und gute Besserung an die bald 13-Jährige! LG, Tina
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Sensationell geschrieben, danke.
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… aber demnächst wird sie 12, oder? Gute Besserung!
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Ich war 9,5 als sich mein fortgesetzter Wurm entzündete. Den ganzen Tag in der Schule, gruselige „Bauchschmerzen“ und wurde immer gelber. Abends dann mehr oder weniger Not-OP. Im Kinderkrankenhaus mit 70er Jahre-Charme. Aber hey – das war ja auch in den 70er Jahren.
Ich weiß noch genau, daß es drei Tage nichts zu Essen und zu Trinken gab. Nur Tropf. Und während ich von Spaghetti träumte und von Pommes, gab es endlich was. Tee. Und Zwieback. Dabei wollte ich was essen. Traumatische Sache.
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