Flatrate

Eigentlich sollte es schön werden. Nur beste Absichten. Frühstücken gehen mit den Kindern. Sie mögen das. Wahrscheinlich weil sie sich erwachsener fühlen, wenn sie mit wichtiger Miene ans Buffet drängeln, Wurst angeln und nach Brötchen grapschen.

Helena ist weg. Sie bringt Emil in den Kindergarten. Wir haben Stöckchen gezogen. Ich habe verloren. Und jetzt bin ich allein mit völlig unterbeschulten, manisch gelangweilten Töchtern. Das Wetter ist toll, die Vögel zwitschern lustige Lieder. Das Szenario ist trügerisch. Bis hierher gab es erstaunlicherweise nur kleinere Streitigkeiten ums Zähneputzen. “Papa, das ist doch bescheuert. Vor dem Frühstück macht das gar keinen Sinn. Ich mach das nicht.” Es folgt die ritualisierte Drohung: “Dann bleibst du hier!” Irgendwie scheinen die Kinder nicht glücklich zu sein, wenn sie dieses Spiel am Morgen nicht spielen dürfen. Sie brauchen das. Es ist eine Tradition und mit Traditionen zu brechen, kann Kinder in große Verzweiflung stürzen. Habe ich gelesen. Verzweifelte Kinder, die sich die Haare raufen, weil sie keine väterlichen Weisungen zur Körperhygiene mehr bekommen – ich sehe das Bild klar vor mir und fühle mich kurz versucht. Zweifle dann aber rechtzeitig an der Richtigkeit der Traditions-Theorie. Meine Kinder würden sich freudig erregt und mit massivem Mundgeruch über das öffentliche Flatrate-Fressen hermachen.

Mit mehr oder weniger geputzten Zähnen schaffen es alle ins Auto. Um bewaffnete Konflikte um die besten Sitzplätze zu vermeiden, wurden Kinder und Sitze einander fest zugeordnet. Es war ein faires Losverfahren, das von allen Betroffenen bis heute angefochten wird. Im Zuge einer weiteren Gerechtigkeitsoffensive wurden auch identische Sitzerhöhungen angeschafft. Es dauert keine 10 Sekunden bis Ida erkennt, dass Marie auf ihrem Kindersitz Platz genommen hat. Das Geschrei ist groß. Beschimpfungen fliegen. Fäuste auch. Mit großer innerer Ruhe und Überlegenheit schreite ich ein: “Ida. Hör auf mit dem Quatsch! Die blöden Sitze sind alle gleich.” Ida starrt mir wütend ins Gesicht, hält mir ihr Sitzkissen vor die Nase und erklärt lauthals, dass ihr Sitzbezug nicht diese Abnutzungsspuren hätte und das Marie wahrscheinlich heimlich die Bezüge ausgewechselt hat. Sie beschreibt die Tat lückenlos. Kann sogar ihre noch größere Schwester als Augenzeugin des gemeinen Frevels ins Feld führen. “Das stimmt Papa. Sie hat den Bezug ausgewechselt”, bestätigt Lotte Idas Ausführungen. Ich will diese Debatte nicht führen. Ich bin 35. Wenn es schlecht läuft, dann ist die Hälfte meines Lebens bereits vorbei. Ich beende die Gerichtsverhandlung mit salomonischer Gerechtigkeit. “Setzt euch jetzt! Die sind alle gleich!” Im Rückspiegel sehe ich Marie sardonisch in Richtung ihrer betrogenen Schwester grinsen. Ich beende das erneute Gezeter, indem ich erst das Auto und dann das Radio starte. Es ertönt ein Hörspiel, das wir alle schon 40 Millionen mal gehört haben. Trotzdem wird es sofort ruhig.

An der Kasse des lokalen Frühstücks-Franchise nimmt dann das Unglück seinen Lauf. Die geänderte Geschirr-Politik des Backhauses führt dazu, dass meine Töchter statt “echter” Kaffeetassen nun Plastikbecher mit Janosch und Tigerenten Aufdrucken ausgehändigt bekommen. Ein Affront. Wie können sie es wagen? “O-Saft aus Plastikbechern schmeckt scheiße!”, ereifert sich Marie wortgewandt. Ihre Schwestern nicken heftig. “Ja. Voll scheiße!” Ich habe dazu nichts zu sagen, weil ich versuche den vorwurfsvollen Blicken der übrigen Gäste zu entgehen. Der Typ hat seine Kinder nicht im Griff. In der Hand das Tablett mit den Plastikbechern und die nölende Brut im Schlepptau durchquere ich das Restaurant und steuere auf die Terrassentür zu. Der nächste Fehler. “Ich will nicht da raus. Draußen ist es zu heiß”, jammert Marie. “Ich habe keine Strickjacke dabei. Mir ist das zu kalt!”, meckert Lotte und Ida gibt zu bedenken, dass die Entfernung zum Buffet definitiv zu groß sei.

Nur zwanzig Minuten und zwei innerliche Tobsuchtsanfälle später haben wir eine Lösung gefunden, die wenigstens 75 % der Anwesenden zufriedenstellt. Die Kinder sitzen an einem eigenen Tisch. Direkt neben dem Buffet. Es ist dort nicht zu warm und nicht zu kalt. Sie schlürfen O-Saft aus den Sektgläsern, die eigentlich für die mittelständische Eltern-Bohème bereitgestellt worden sind. Die Schoko-Croissants befinden sich in Griffweite. Es ist der Himmel auf Erden. Meine Töchter sitzen auf Wolke sieben und schaufeln ungehemmt Kohlehydrate in ihre kleinen Körper. Ich habe mich auf die Terrasse zurückgezogen und trinke O-Saft aus drei Plastikbechern. O-Saft aus Plastikbechern schmeckt wirklich scheiße. Und das Buffet ist definitiv zu weit weg.

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