
In meiner Schule war ich einer von vielen. Kaum einer hatte noch einen Vater zu Hause. Anfang der 90er Jahre war man in Köln etwas besonderes, wenn der Vater die Familie noch nicht verlassen hatte. Meine Mutter war 20 als ich kam und 22 als er ging. Ich kann mich an WGs mit alleinerziehenden Müttern und ihren Kindern erinnern. An Marvin und Christiane und ihre wechselnden Bekanntschaften. Christianes Männer waren immer schwarz und Marvin folglich das schönste Kind der Welt.
Meine Grundschule war direkt neben dem Stollwerckhof. Als ich dort meine vaterlosen Freunde besuchte, war von Schokolade nicht mehr viel zu sehen. Ewig gleiche Neubau-Reihenhäuser auf einem zu betonierten, verkehrsberuhigten Areal. Grau war auch in den 80ern Trendfarbe. Wahrscheinlich waren wir auch deshalb begeistert vom Nintendo Entertainment System. Von außen sah die Konsole aus wie der Stollwerckhof, aber wenn man sie einschaltete schoß grobgepixelte Farbe heraus und flutete unsere kleinen Köpfe bis uns die Augen tränten.
Auf dem Schulhof kamen Ninja-Sterne in Mode. Andreas hatte welche. Und weil in Köln jeder zweite Junge Andreas hieß, gab es Sterne in Massen. Nicht den Karnevals-Schrott aus Plastik, sondern die Richtigen. Aus Metall. Schwarzlackiert und in archaische Formen gegossen. Natürlich waren die verboten. Vollkommen zurecht. In den Pausen warfen wir sie auf die Pressspantüren der Toiletten. Darin blieben sie am besten stecken. Als man uns endlich erwischte, waren viele der Türen bereits durchlöchert und mussten ausgetauscht werden. Nach der Schule blieben wir länger, um die Hausordnung abzuschreiben und Erziehungsgespräche mit meiner Grundschullehrerin zu führen. Wir nickten schuldbewusst und wurden mit Elternbriefen nach Hause geschickt.
In der Grundschule bekam ich auch andere Briefe. Liebesbriefe. Von Jenny zum Beispiel. Ich wußte nicht was ich damit sollte. Ja? Nein? Vielleicht? Ich war immer der “Vielleicht” Typ. Später fand ich Susi gut. Susi war ruhig und hübsch. Ich schrieb ihr einen Liebesbrief. Auch sie war ein “Vielleicht” Typ.
In der dritten Klasse kam dann der Handball dazu. Ein langhaariger Typ erklärte vor der gesamten Klasse, dass er eine Handball-AG ins Leben rufen wolle und dass, wer Interesse hätte, mitmachen dürfe. Ich hatte Interesse und machte mit. Jenny war auch dabei. Und Amir. Und ein paar Andreasse auch. Eigentlich gab es keinen der nicht mitmachen wollte. In der dritten Klasse haben Kinder noch Interesse. An allem. Das hört erst auf den weiterführenden Schulen auf. Wir waren alle begeistert und die allermeisten waren zudem noch bemitleidenswert untalentiert. Jenny wurde immer panisch, wenn sie den Ball bekam und warf ihn dann, aus lauter Angst, ins eigene Tor. Erst als wir gegen alle Handball-Mädchenmannschaften aus dem Kölner Raum verloren hatten, kristallisierte sich der harte Kern einer Truppe heraus, die erst noch ein paar Jahre alles verlieren und dann ein paar Jahre alles gewinnen würde.
Mit 10 durchtrennte mir der Zahnarzt das Lippenbändchen und nahm mir alle 4 Weisheitszähne weg. Im Gegenzug bekam ich eine Zahnspange. In meiner Wunschfarbe. Ich entschied mich für Blau mit Glitzer. Ein Fehler, der zu einigem Hohn und Spott führte und den ich später mit einer Spange in giftgrün zu korrigieren versuchte. Vergeblich. Mit 11 bekam ich während eines Handballturniers wieder einen Liebesbrief. Von einem Jungen. An der Zahnspange allein konnte das nicht gelegen haben. Vielleicht waren es die langen Haare. Wieder um Korrektur bemüht, wurde ein Treffen mit dem Frisör vereinbart. Was für eine einen “Look” das Töchterchen sich denn vorstelle, fragte der Haarkünstler meine Mutter. Und während meine Mutter hustete und prustete, wurde mir klar, dass kurze Haare meinem weiteren Leben deutlich unkompliziertere Wendungen geben konnten.
Du schreibst ganz toll. Danke für den wunderbaren Text!
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Zahnspange. Ich auch. Sieben Jahre Lächeln auf Fotos ohne Zähne zu zeigen. Und zum Friseur ging ich auch immer erst, wenn irgendwer zu meiner Mutter sagte: „Sie haben aber eine hübsche Tochter.“ Weizenblondes Langhaar mußte ja weiblich sein. Alles Sexisten früher 😉
Heute nicht mehr so hellblond. Aber immer noch lang, die Haare. Und glaub niemandem, der dir sagt, durch kurzes Haar würde es unkomplizierter.
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Du schreibst schön.
Wir sind jahre später zu eurem handballtraining gekommen. Auf der bank sitzen und dir nahe sein. Jeden dienstag. Was eine aufregung. Gestern haben wir uns daran erinnert. An die alten zeiten und unser verknalltsein. und wir haben dich gegoogelt und diese seite gefunden.
Verrückt.
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Die Welt wird klein in diesem Internet 😉
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