Männlich

Jetzt bin ich 15. Keine gute Zeit. Zum Glück weiß ich das nicht. Ich ahne es nur. Seit Monaten bin ich glücklich unglücklich verliebt. In jugendlichem Größenwahn halte ich mich für Romeo und sie für Julia. Das ist natürlich völliger Blödsinn, aber die ganzen Hormone und der Weltschmerz trüben meine Wahrnehmung. Meine Realität ist stark verpixelt und an den Rändern sehr verschwommen. Trotzdem. Ich weiß alles besser. Wirklich. Fucking Alles. Ich lese Schiller, Goethe und Shakespeare. Ich halte mich für intellektuell und jedem überlegen. Allein, zu meinem Glück fehlt mir ein Bart. Ich wünsche mir üppiges Gestrüpp ins Gesicht, um ein paar Pickel verstecken zu können. Der Bart kommt später. 20 Jahre später.

Es ist 1996… und Fettes Brot sagen “Jein”, während ich mir ein Zimmer mit meinem Cousin, Jamie, teile. Jamie kommt aus den Staaten und wird für ein Jahr bleiben. Es wird ein großes Jahr. Ein wichtiges. Für uns beide. Als Jamie kommt, sind seine Fußnägel blau. “It just happened. Don’t really remember how”, sagt er mit einem Achselzucken. Ich bin misstrauisch. Wir kennen uns noch nicht richtig und mir kommen auf einmal ein paar Bedenken. Immerhin soll ich ein Jahr lang das Zimmer mit ihm teilen. Ich sage ihm, dass ich Mädchen ziemlich gut finde. Ganz beiläufig. Nur um sicher zu gehen. Jamie zuckt wieder mit den Schultern, nimmt sich seine Gitarre und klimpert irgendwas von den Foo Fighters. Ob mich seine Erklärung beruhigt? Jein.

Zwei Wochen später sind meine Fußnägel auch blau. And I don’t really remember how. Wir fahren nach Köln, um einen Playboy zu kaufen. T’n’A statt Schiller und Shakespeare. Genug Geist. Wir wollen Körper. Jetzt geht es um echte Literatur. Und es geht darum, es zu tun. Eine Mutprobe. Das Internet gibt es noch nicht und wir wollen nicht darauf warten. Wir müssen jetzt Brüste begaffen. Also müssen wir sie kaufen. Wie echte Männer. Wir schlendern lässig in einen dieser Bahnhofs-Zeitschriften-Läden. Langsam arbeiten wir uns in die Ecke mit den offenherzigen Damen vor. Auf dem Weg in den Brüste-Himmel blättern wir interessiert durch ein paar Heimwerker-Magazine und unterhalten uns angeregt über den Leitartikel in der neuen Ausgabe der Brigitte: “8 Sex-Fragen, die Männer uns gerne stellen würden – sich aber nicht trauen” Schwachsinn. Wir haben keine Fragen. Wir wissen alles und den Rest wollen wir endlich sehen.

Wir sind smooth. Niemand kann auch nur erahnen warum wir wirklich hier sind. Vor dem Regal mit den Hunde-Hochglanz-Magazinen gerät unser Plan ins Stocken. Die schönen Frauen mit ohne Klamotten liegen ausladend einladend direkt gegenüber. Hier warten wir. Beim Kauf hochbrisanter visueller Literatur geht es um den richtigen Moment. Und der richtige Moment ist gekommen, wenn wir die beiden einzigen Menschen auf der Welt sind und skeptisch dreinschauende Kassierer durch Roboter ersetzt wurden. Wir sind uns schnell einig, dass das noch ein wenig dauern kann. Der Kassierer ist mittlerweile auf uns aufmerksam geworden. Unser reges Interesse an den Monatsschriften “Wuff” und “Lumpi” nimmt er uns offenbar nicht ganz ab. Er beäugt uns argwöhnisch. “I told you, we should have brought that neighbors dog!”, raunt Jamie mir verärgert zu. Jaja. Ich bin dagegen gewesen. Ob Goethe und Schiller verschämt Holzschnitte nackter Frauen käuflich erworben haben? Mit Hunden im Schlepptau? Wohl nicht. Die konnten schreiben. Wer schreiben und dichten kann, hat den Einkauf erotischer Medien wohl kaum nötig.

SchnickSchnackSchnuck. Wir spielen, um unsere Tarnung nicht auffliegen zu lassen. Wer verliert, wird alleine zum Mann. Ich gewinne. “Best out of three”, fordert Jamie. Ich gewinne. “Best out of five. That’s the way men play it!” Ich verliere. Jamie zwinkert dem Kassierer zu und stürzt dann erleichtert davon. Augen zu und durch. Ich greife hastig in den Schmuddelblätterwald und knalle dem Kassierer das Heft und 8 Mark 50 souverän auf die Theke. “Hat aber gedauert, Alter!” Ich sage nichts und ertrage die Schmach mit hochrotem Kopf.

Vor dem Laden wartet Jamie. Er gratuliert mir zur Mannwerdung. Wenn sich Männer so fühlen, dann muss ich mir das nochmal überlegen. Ich bin nicht Romeo und Julia wäre sicher nicht stolz auf mich. Wenigstens das habe ich geklärt.

3 comments

  1. Oh ja – 15 Jahre. Ich las Siddhartha und Steppenwolf, schrieb Gedichte und wusste, ich würde einmal den Nobelpreis für Literatur bekommen. Verliebt war ich auch, meistens standen zwei oder drei Jungs zur Auswahl auf meiner Liste. Nur den Playboy habe ich mir gespart :-))

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  2. Wunderbar eingefangen.
    Nun muss ich an den Jungen denken, der vor drei oder vier Jahren mit seinem Freund an mir vorbei lief und dabei wohl über eine seiner Lehrerinnen sprach: „Wenn sie mich aufruft, wird mir immer so heiß irgendwie.“ Sein Freund hatte auch keine Erklärung dafür.
    Inzwischen dürften sich beide das fehlende Wissen ergoogelt haben.

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  3. Das mit Romeo und Julia ist ja so eine Sache – am Ende sind alle tot. Scheiße, mit 15 ging es mir genau so. Was habe ich diese Frau geliebt. Und was hat sie mich nicht haben wollen. Heute wäre das „friendzone“.

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