Zugvögel

Vor mir im Zug sitzt Morgan Freeman. Morgan Freeman liest die Bibel. Auf Hebräisch. Oder Griechisch. Oder Arabisch. Ich bin mir nicht sicher. Wie auch? Zwischen den beiden Rückenlehnen der Vordersitze hindurch, sehe ich zwischen fremdartigen Schriftzeichen, kleine gezeichnete Ikonographien. Maria, Jesus und Männer mit beneidenswert vollen Bärten. Wahrscheinlich Jünger. Oder Propheten. Oder so. Immer wenn Morgan Freeman auf eine dieser Zeichnungen stößt hebt er sie an seine Lippen und küsst kurz das Papier auf das sie gedruckt wurden. Ich möchte Morgan Freeman gerne fragen wer er ist und warum. Aber dazu fehlt mir der Mut. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass Morgan Freeman wahrscheinlich nur Altgriechisch spricht. Oder Arabisch. In beiden Sprachen fühle ich mich nicht besonders zuhause.

In Köln steige ich aus. Morgan Freeman auch. Er verschwindet betend in der Menschenmenge. Ich warte auf Gleis 5. Der ICE hat Verspätung. Ich stehe unter der riesigen 4711 Leuchtreklame – Der Geruch von Ewigkeit, geschraubt zwischen Stahlträger. Neben mir steht ein angedickter Business-Punk und spielt irgendein Endlos-Game mit Minions auf seinem iPad. Den Scheiß spielen meine Kinder auch. Und sie sehen dabei genauso gelangweilt aus wie der Business-Punk. Zeit totschlagen mit Langeweile. Auf Gleis 5 wird der Teufel noch mit dem Teufel ausgetrieben. Er merkt, dass ich ihn beobachte, hebt den Blick und starrt mit leeren Augen durch mich hindurch. Da stehen wir. Zusammen mit Tausend anderen Menschen. Und alle geben sich die größte Mühe einander nicht zu sehen. Wir sind alle unsichtbar.

Der Zug hat Verspätung. 35 Minuten. Blechern schallt die Ansage durch die riesige Bahnhofshalle, zerbricht an der gigantischen 4711-Reklame in eine Milliarde Klangsplitter, die in wartende Ohren und fragende Gesichter regnen. „Hä? Was hat die Kuh gesagt?“, fragt rechts von mir der beige Mittsechziger seine graue Frau. Sie reagiert nicht. Hält stattdessen mit steinerner Miene ihren Rollkoffergriff mit der fleckigen Hand fest umschlossen. Der Business-Punk hat das Klangpuzzle erfolgreich zusammengesetzt und eilt zur Hilfe. Er schnaubt ein genervtes „Personenschaden“ in Richtung des unwirschen Ehemanns und interpretiert die Botschaft der Kuh: „Da hat sich doch bestimmt wieder einer auf die Gleise gelegt. Vollidiot.“ Zustimmendes Nicken in beige und grau. Sowas geht gar nicht. Was für ein Egoist. Und überhaupt: War die Bahn jemals pünktlich? Was ist eigentlich mit Deutschland los? Und die Flüchtlinge? Das wird man wohl nochmal sagen dürfen. Schnell sind sich alle einig: Frau Merkel muss weg, wenn es mit diesem Land wieder aufwärts gehen soll. Die Leiche auf den Gleisen ist zur Randnotiz geworden. Der Tod ist nur noch ein sanftes Hintergundrauschen.

Ich habe Bauchschmerzen und rede mir ein, dass es Hunger sein könnte und keine Leiche. Nichts was ich mit lieblos überbackenem Laugengebäck nicht erfolgreich ignorieren könnte. Ungesehen gleite ich an Menschen vorbei und fahre mit der Rolltreppe hinunter in den Fressbereich des Bahnhofs. Auf dem Weg zu Frittiertem, Gesottenem und Gebratenem kommen mir eine schreiende Mutter mit einem weinenden Kind an der Hand entgegen. Dicht gefolgt von einem schreienden Kind mit einer weinenden Mutter an der Hand. Zwischen völlig überteuerten Kohlenhydraten betteln Menschen andere Menschen an. Dass Bettler nicht genauso unsichtbar sein können, wie alle anderen hier, das nervt die meisten. Niemand lässt sich gerne an Elend erinnern.

Irgendwann sehr viel später fließt der ICE zäh in den Bahnhof. Einsteigende Menschen drängeln sich an aussteigenden Menschen vorbei. Im Hintergrund ruft ein Schaffner sein Verslein in Endlosschleife “Erst aussteigen lassen, bitte!” Es ist sinnlos. Der Deutsche wird “erst aussteigen lassen”, in keinem Leben mehr lernen. Ich warte irgendwo im Hintergrund bis das blutige Geschubse endlich vorbei ist. Als ich 30 Minuten Später endlich an meinem Sitz ankomme, ist der Platz neben mir schon besetzt. Morgan Freeman lächelt mich an und wünscht mir einen “schönen guten Morgen”. Gott ist tot? Fucking Schwachsinn. Da sitzt er. Direkt neben mir. Gott fährt zweite Klasse und mit mir nach München. Es gibt viel zu besprechen.

1 comment

  1. Ich warte irgendwo im Hintergrund bis das blutige Geschubse endlich vorbei ist.

    …um sodann über die Leichen meiner ehemaligen Mitfahrer gut gepolstert den Bahnsteig zu betreten:D
    So mache ich das auch immer.

    In den „Bauschmerzen“ fehlt übrigens noch was, nehem ich an 😉

    Gefällt 1 Person

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s