Mayfeuer

Ich habe lange nach ihm gesucht. Nach einem professionellen Freund. Aber bevor ich Herrn May finde, muss ich Anderen begegnen.

Der Erste Fehlschuss reicht mir zur Begrüßung die Hand, und zwischen meinen Fingern windet sich ein erschreckend schlaffer, totfeuchter Fisch. Von totfeuchten Fischen sind keine therapeutischen Wunderdinge zu erwarten. Wir sitzen in einem lieb- und leblosen Raum, dessen innenarchitektonischen Reize sich in zwei Kunstlederstühlen und einem scharfkantigen Tisch aus Glas erschöpfen. Wie eine Skalpellklinge steht der Tisch in der Mitte des Raumes und trennt ihn sauber in zwei Hälften. Mein Tanzbereich. Sein Tanzbereich. Von einem identifizierenden “Wir” kann hier niemals die Rede sein. An der Wand hängt eine Uhr, die mir laut tickend verkündet, dass sie 45 Minuten zu einer Ewigkeit auszudehnen imstande ist. Mein Gegenüber hält empirische Erhebungen und große Worte für lebendige Weisheiten: “Wir Psychologen nennen dieses pathologische Phänomen “Anosognosia” und machen einen beschädigten Frontallappen dafür verantwortlich!” Fick dich. Kein beschädigter Frontallappen redet mir ein, dass mein Frontallappen beschädigt sei. Ich moderiere unsere Gespräche so ausweichend wie möglich. Er merkt es nicht. Einem Toten will ich mein Leben nicht anvertrauen. Nach acht Sitzungen sind wir uns endlich einig, dass Berlin und Köln die zwei einzigen Städte in Deutschland sind, in denen es sich zu leben lohnt. Ich bin nicht gut darin Beziehungen zu beenden, aber da wir keine haben, geht es schnell und reibungslos. 

Mein nächster Anlauf führt mich in das Haus einer Gestalttherapeutin mit merkwürdig verwachsener Gestalt. Diesmal sind die Stühle mit Stoff bezogen und auf dem Tisch zwischen uns stehen Tee und Taschentücher. An der Wand hinter mir hängt die Uhr, der meine Therapeutin sehr viel mehr Aufmerksamkeit schenkt als mir. Ich will ihr eine Chance geben und lege ein paar meiner Themen auf den Tisch. Sie lässt sie da liegen und will stattdessen mit mir über mein Verhältnis zu meiner Mutter sprechen. Wie sie dazu kommt, ist mir schleierhaft, aber noch bin ich bereit ihr seherische Fähigkeiten zuzuschreiben. 10 Minuten später verabschiede ich mich von dieser romantischen Hoffnung. Sie ist blind und stochert wild in meinem Nebel herum. “Ich fühle da eine große Wut auf die Welt.” Sie spürt völlig richtig. Und völlig beliebig. Sie schwadroniert mit Händen und Füßen. Ich lasse sie ein wenig auf Allgemeinplätzen spielen, während ich versuche, ihren wirren Ausführungen über mein Leben zu folgen. Vergeblich. So unklar wie ihr Körper sind auch ihre Gedanken. Ich suche nach dem kleinsten, einsamen Nenner, den ich zustimmend abnicken kann, um nicht in stiller Schockstarre verharren zu müssen. Da. Endlich. Ja, mein Vater hat Schuld auf sich geladen, als er mich im Stich gelassen hat. Ich greife nach den Taschentüchern neben meinen unberührten Themen und wische mir verstohlen keine Träne aus dem Augenwinkel. Am Ende der Sitzung watschelt sie mich zum Ausgang. Ich weigere mich standhaft, einen neuen Termin zu vereinbaren. Wenigstens das funktioniert.

Am Ende ist es Anna, die Herrn May für mich findet. Im Internet. Auf einer Seite die so herzzerreißend hässlich ist, dass es dafür nur eine Erklärung geben kann: Er braucht sie nicht. Ich rufe ihn an, und in diesem Moment ist Herr May das Ende einer Suche und der Beginn einer weiteren Reise. Keine schöne Reise. Zwei mal im Monat ungemütliche Trips in mein eigenes kleines Reich der Schatten. Es gibt keinen Tisch zwischen uns. Und auf die Uhr blickt er kein einziges Mal. Sie ist ihm egal. Hinter ihm, an der Wand, hängt der Garten der Lüste von Hieronymus Bosch. Sein riesiger Schädel verdeckt die Mitte des Triptychons. Herr May ist mein Dazwischen und vermittelt meinen Kosmos weise zwischen Himmel und Hölle. Und da sitzen wir dann zu dritt, um mein Mayfeuer – ich und ich und ich und ich und dieser riesige Mann, der gütig auf meine Widersprüche blickt und mir dabei hilft, die Fäden meiner Menschenmengen zu entwirren. Wir unterhalten uns über uns. Über die vielen kleinen Systeme aus denen ich bestehe, und darüber wie sie zu meinem Heute führen konnten. Er hilft mir dabei, mir die Angst vor mir selbst zu nehmen, und als wir uns zum ersten Mal verabschieden, weigert er sich, einen weiteren Termin mit mir zu vereinbaren: Ich habe ihn gefunden und ich soll einfach kommen. Und das tue ich. Immer wieder.

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