Tinder

Die beiden sitzen direkt hinter mir. Getrennt voneinander sind sie gemeinsam in Köln zugestiegen. Jetzt lernen sie sich kennen. Schon nach wenigen Minuten wird klar: Sie ist sehr interessiert an ihm. Und aus der Art, wie er mit ihr spricht schließe ich, dass es ihm umgekehrt nicht anders geht. Sitzplatzreservierungen der Bahn haben sie zusammengeführt. Für diese beiden kommt die Bahn heute nicht 30 Minuten zu spät, sondern genau richtig.

Sie sind beide erstaunlich offen und haben die Verspätung der Bahn ebenso schnell abgehakt, wie die erstaunliche Hitze der letzten Tage. „Hoffentlich funktioniert die Klimaanlage, sonst wird es gleich ziemlich heiß“. Er lässt nichts anbrennen. Sie kichert routiniert. Profis. Ermutigt treibt er das Gespräch voran. Er kommt aus Bielefeld. Ach? Wirklich? Ja. Und entgegen aller Verschwörungstheorien, die im Internet kursieren, gibt es diesen Ort tatsächlich. Sie lächelt laut. Er verwandelt ihre Gesprächsvorlagen mit spielerischer Leichtigkeit und sie gibt ihm dabei das Gefühl sehr originell zu sein. Es knistert.

Die beiden merken nicht, dass sie mittlerweile lauter reden, als es den restlichen Fahrgästen lieb ist. Mahnende Blicke. Mein Sitznachbar kramt umständlich in seiner Tasche und findet nichts. Er erhebt seine Stimme über das Lachen hinter uns hinweg und fragt mich, ob ich nicht zufällig Oropax dabei hätte. Das ist der größte Zaunpfahl den ich seit langem gehört habe und hinter mir zucken zwei Menschen verstummend zusammen.

Aber die verbale Ohrfeige entfaltet keine nachhaltige Wirkung. Die Beiden grasen in beeindruckender Geschwindigkeit die nahegelegenen Themenfelder ab. Hobbies? Lesen, Fahrradfahren, Tanzen und Badminton. Politik? Trump, AfD, Koalitionskrise und EU-Geflüchtetenpolitik. Familie? Zwei ältere Schwestern und kleiner Bruder.

Langsam wird es persönlicher. Sie findet es nicht richtig, Fleisch zu essen, aber vegan geht ihr dann doch zu weit. „Ich habe eine Freundin, die sich nur noch vegan ernährt. Außer Ernährung kennt die jetzt kein anderes Thema mehr.“ Er hat genau die gleiche Freundin. Sie sind sich einig, dass das sehr anstrengend ist und allein diese Freundin Grund genug, die vegane Welle nicht zu reiten. Sie lässt ihn wissen, dass sie überhaupt keine Wellen reitet. Grundsätzlich nicht. Sie ist einzigartig. „Der Mainstream ist noch nie mein Ding gewesen.“ Seins auch nicht. Beide fanden sie Coldplay toll, tief und bezaubernd, lange bevor Chris Martin anfing die Massen zu bedienen. Und bald wissen auch die letzten Mitreisenden, dass die beiden zur gleichen Zeit in Südspanien Urlaub gemacht haben. „Da hätten wir uns ja begegnen müssen!“, ruft sie laut und mein Sitznachbar murmelt genervt, dass das wirklich schön gewesen wäre.

Und dann geraten sie ins philosophieren. Sie prognostiziert dystopisch, dass die Konsumorientierung der Gesellschaft uns alle ins Verderben stürzen wird: „Glück kann man nicht kaufen!“. Er tut so, als hätte er nie größere Weisheit vernommen. Sie hat einen Freund, dem sie sich sehr nah und verbunden fühlt. „Ganz platonisch natürlich“, versichert sie eifrig. Er kennt das, hat eine Freundin, deren Unwohlsein er über große Entfernungen spüren kann. Ach? Das ist ja ganz ähnlich bei ihr. Wie kann so etwas sein? Das Übernatürliche? Gibt es das? Ja. Davon sind beide überzeugt. An einen Gott glaubt er aber nicht. Sie glaubt dafür an alle.   

Ob er mal Kinder haben möchte? Ja. Wahrscheinlich schon. Am liebsten drei. Es ist ihm wichtig, dass seine Kinder mit Geschwistern aufwachsen. Sie ist entzückt, denn genau das ist ihr auch wichtig.

Die Abteiltür öffnet sich und ein unglücklich aussehender Reisebegleiter schiebt Snickers und Kaffee den Gang hinunter. Mit trauriger Stimme bietet er seine Ware feil. Hinter mir fragt er sie, ob sie etwas wolle. Sie will und er kauft ein Twix. Sie teilen. Hinter mir knuspert es leise. „Bist du auf Facebook?“ Ja. „Ich heiße Bernd. Und du?“. Bianka mit „k“. Das ist ungewöhnlich, aber ihre Eltern wollten das so. Sie suchen sich gegenseitig mit ihren Handys. Finden sich. Werden Freunde. Dann kommt die Durchsage. „Nächster Halt Bielefeld“. Wie schade. Danke für das schöne Gespräch. „Ja. Danke!“ murmelt mein Sitznachbar. Bernd und Bianka versprechen einander, in Kontakt zu bleiben. Der Zug hält. Er zögert seinen Ausstieg hinaus so lange es geht. Vor der gläsernen Abteiltür bleibt er noch einmal stehen. Blickt zurück. Lächelt ihr zu. Dann gleitet die Tür nach links auf. Swipe. Bernd ist weg. Durch die Öffnung, durch die er gerade verschwunden ist, schwappen Menschen ins Innere des Zuges. Jammernde Kinder, genervte Mütter, unbeteiligt wirkende Väter. Und ein junger, gutaussehender Typ. Er hält hinter mir an und fragt, ob er sich setzen darf. Er darf. Der Zug setzt sich in Bewegung. Die beiden unterhalten sich hinter mir. Die Bahn und ihre Verspätungen. Die Hitze der letzten Tage. Die Klimaanlage der Bahn. Sie kichert routiniert.

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