Blutlehre

Meine Kindheit verbringe ich eingebettet in grauen Beton. Köln ist keine schöne Stadt. Nach ’45 hat die pragmatische Platte Wohnraum geschaffen und historische Bautraditionen verdrängt. In der Natur bin ich nur selten. Eigentlich nie.

Im Kölner Stadtgarten sind mehr Menschen als Bäume. Gestresste Menschen, die versuchen ihren inneren Zivilisationsmüll in einem kärglichen Rest domestizierter Natur zu verklappen. Manchmal mieten wir ein klobiges Tretboot aus Plastik und schlingern behäbig, unter Aufbietung unmenschlicher Kräfte, durch die braune Brühe. Es stinkt. Auf der Wasseroberfläche treibt nichts Gutes. Zwischen leeren Bierdosen, Flip Flops und einem entenvergrütztem Schwimmflügel paddeln orientierungslos ein paar hässliche Schwäne dahin. Wenn wir ihnen zu nahe kommen, dann schnappen sie nach uns und versuchen das Boot zu entern.

An schulischen Wandertagen wird alles mögliche getan – aber nicht gewandert. Meine Klassenlehrerin, Frau Groß, hat nur eine kleine Auswahl an Ausflusgzielen. Und so landen wir einmal im Halbjahr entweder im Römisch-Germanischen Museum und schauen uns Beton aus grauer Vorzeit an oder wir gehen in den Kölner Zoo, um „mal richtig rauszukommen und die Natur zu erleben“. Da stehen wir dann und schauen uns den majestätischen Eisbären an, der von seinem winzigen Gehege in den Wahnsinn getrieben wurde und nur noch hospitalistisch mit dem Kopf schütteln kann. Die Robbenfütterung ist ein Spektakel. Zusammen mit tausend anderen Kindern dränge ich mich ganz nah an das Becken. Weil ich für mein Alter immer noch besorgniserregend klein bin, muss ich mit dem verzerrten Blick durch konkav geschliffene Glasplatten vorlieb nehmen, während alle anderen eine unverstellte Sicht auf traurige Robben haben. Ich ahne wie die Tiere billige Wasserbälle mit Sparkassenlogos auf ihren Schnauzen balancieren, mit ihren Flossen winken und aus dem Wasser schnellen, um Fische aus den Händen der Tierpfleger zu beißen. Als die Vorstellung vorbei ist, robbt ein Jungtier auf dem grauen Betonboden an meiner Scheibe vorbei. Ganz nah. Sie hält kurz an, schaut mir trübe in die Augen und schnappt dann halbherzig nach meinem Gesicht. Als ihr Kopf gegen das Glas klatscht, kann ich ihr kurz ins Maul schauen. Darin sind keine Zähne mehr.

Meine Mutter mag es bequem. Wahrscheinlich weil sie ein unbequemes Leben führen muss. In unserer riesigen Wohnung, die mal eine Lagerhalle für Kühlschränke gewesen ist, steht ein kleiner Kohleofen, der die Zimmer lediglich mit einer vagen Erinnerung an Wärme versorgt. Außer einem Trockenblumenstrauß gibt es nur zwei weitere lebende Pflanzen. Palmengedöns, das in Hydrokulturen mit Wasserstandsanzeigern aus Plastik steckt. Auf den grauen Betonböden unserer Wohnung liegt grüner Teppich – eine velour-viskosene Rollrasen-Reminiszenz. Wenn es im Sommer hitzegewittert, dann setzen meine Mutter und ich uns ans weit geöffnete Fenster und schauen in den riesigen Hof. Weil in den Fenstern gegenüber kaum Menschen zu sehen sind, imaginieren wir Geschichten zu den nicht vorhandenen Bewohnern. Und wenn nach Blitzen und Donnern endlich der Regen fällt, dann riechen wir den heißen Beton in der feuchten Luft.

Auch meine Schule ist in lebendigem grau gehalten, genauso wie der Pausenhof. Und auch die Tischtennisplatte – um die wir Rundlauf ohne Gummipunkte spielen – ist liebevoll aus Beton dort hingegossen worden. Wahrscheinlich sind die 80er Jahre auch deswegen farbtechnisch so entartet. Die ganzen hochgiftigen Neonklamotten, die wir am Leib tragen, sind ein multichromatöses Aufbegehren gegen die Vorherrschaft des Grau in Grau.

Das erste Mal wirklich in der Natur, bin ich mit 12. Meine Mutter ist mit mir in die Staaten geflogen. Familienbesuch. Mein Onkel wohnt mit seiner Familie auf dem Land in Illinois. Zu seinem Haus gehören 20 Hektar Land. Auf Mini-Quads und kleinen Cross-Motorrädern heizen meine Cousins und ich durch die kleinen Wälder und Canyons. Wir haben kleinkalibrige Schusswaffen dabei, um auf mitgebrachte Getränke-Dosen zu schießen. Hinterher lassen wir die durchlöcherten Dosen einfach da, wo wir sie erschossen haben. An den kleinen Bächen, die sich durch die 20 Hektar Land ziehen, wimmelt es von Waschbären und in den Bäumen klettern riesige graue Eichhörner umher.

Um drei Uhr Nachts holt uns mein Onkel aus den Betten. Wir haben keine Lust und keine Wahl. Wir gehen jagen. Eine Stunde später rieche ich nach künstlicher Fuchspisse und sitze auf einer winzigen Sitzfläche in 5 Metern Höhe. Mein Onkel hat mich mit einem Hüftgurt an den Baum gebunden. „Falls du nochmal einschlafen solltest…“. Dann hat er mich, sardonisch lächelnd, hängen lassen. Auf meinem Schoß liegt ein riesiges Gewehr, das ich vor ein paar Tagen das erste Mal abgefeuert habe. Unter dem Flecktarn ist meine Schulter immer noch Blau vom plötzlichen Rückschlag der Waffe. Selbst wenn ich ein Reh sehen sollte, werde ich dieses Gewehr auf gar keinen Fall ein zweites Mal abfeuern. Ich bin pissig und habe panische Angst einfach von meinem Sitzplatz zu fallen. Als die Sonne endlich aufgeht, klettere ich mit steifen Gelenken vom Baum herab und mache mich schleichend auf die Suche nach einem meiner Cousins.

Ich treffe Jamie am Rande einer kleinen Schlucht. Er bedeutet mir, mich neben ihn zu setzen. Jamie ist so alt wie ich. Er hasst die Jagd. Wir werden in diesem Sommer Brüder und sind es noch heute. Im Sitzen schlafen wir nebeneinander ein und wachen erst wieder auf als wir hinter uns ein Knacken hören. Wir drehen uns langsam um. Keine drei Meter von uns entfernt steht ein Reh. Aus einer Schusswunde an seinem Hals sickert im Rhythmus seines Herzschlags das Blut. Das Reh röchelt erbärmlich und zittert am ganzen Leib. Aus den Augenwinkeln sehe ich wie Jamie langsam seine Waffe hebt. Der Knall ist ohrenbetäubend. Das Reh sackt sofort in sich zusammen. Jamie zittert. Ich zittere. „It’s ok. It would have died anyway.“ Mit versteinertem Gesicht zückt Jamie sein riesiges Jagdmesser. „Now comes the messy part“, seufzt er. Ich muss die Hinterbeine des Rehs auseinanderhalten. Die Geräusche sind schrecklich. Der Geruch ekelerregend. Wir würgen immer wieder hart und kotzen am Ende zusammen neben die blutigen Eingeweide des Tieres. Als Jamie mit 15 für ein Jahr nach Deutschland kommt, verrät er mir, dass er auf späteren Jagden nur noch in die Luft geschossen hat, um die leeren Patronenhülsen als Beweise für seinen guten Mordwillen mit nach Hause bringen zu können.

Auf der Ladefläche des Pick Ups liegt die Beute unserer Jagdgesellschaft. Rehe, Hirsche. Irgendwo dazwischen liegt auch ein Wildschwein. Als wir an der Jagdstation eintreffen türmen sich auf dem großen, grau betonierten Hof bereits Berge von Tierkadavern. Alle sind sie gekommen, um ihre Abschüsse registrieren zu lassen. Aus den Leichenbergen laufen feine, rote Rinnsale in die dafür vorgesehenen Abflüsse. Später am Abend gibt es Hackbällchen in Tomatensoße.

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