Klebstoffe

Früher dachte ich, dass kinder aus Fleisch und Blut bestünden. Heute weiß ich sicher: Kinder bestehen aus unterschiedlichen Klebstoffen. Die meisten Kinder haben keine Finger, sondern kleine, aufgeschraubte Prittstifte. Doppelseitiges Klebeband statt Zungen. Leim statt Spucke. Und schnüffelt man an ihnen, dann kann es passieren, dass man betäubt zu Boden sinkt. Bei hohen Temperaturen verklumpen Kinder zu einer klebrigen Masse ohne echte Form. Sie sind dann wie eine Rolle Kreppband. Nach dem Streichen. Zusammengeknüllt. Feucht. Und klebrig.

Mir gegenüber auf der Couch sitzt Ida. Vor nicht einmal zwei Sekunden hat es gedonnert. Schon ist sie da. Sie war den ganzen Tag draußen und riecht nach frischem Grasschnitt. Irgendwie sieht sie auch aus wie frischer Grasschnitt. In ihren kurzen Haaren hängt Moos und unter ihren Füßen klebt eine Mischung aus Sand, Blut und Wiesenblumen. Sie hört ein TipToi Buch. Sie muss es auch hören, denn es ist äußerst unwahrscheinlich, dass sie durch ihre schmierigen Brillengläser überhaupt noch etwas sieht. Meine Anordnung, sich vor dem Betreten des Hauses, draußen zu entkleiden, hat sie – wie immer – geflissentlich ignoriert. Zwischen uns herrscht mittlerweile ein stilles Einvernehmen. Ich darf so tun als würde ich sie erziehen und sie tut so als würde sie das interessieren. Die Löwenzahnflecken auf ihrem Kleid wird sie vermutlich mit einer weiteren väterlichen Standpauke bezahlen. Später. Vielleicht werde ich das Pauken auch Helena überlassen. Dann kann Ida zur Abwechslung mal ihrer Mutter nicht zuhören.

“Ida, wie wäre es mit duschen?” Ida zuckt erschrocken zusammen und blinzelt dann vage in meine Richtung. Sie kann mich nicht sehen. “Ida. Du musst dringend duschen!” Ida streckt sich genüsslich. “Ja. Gleich!” Das Konzept von “Ja. Gleich!” haben sie verstanden. Alle meine Kinder verwenden es, um nicht mehr “Nein!” kreischen zu müssen. Nach einer Weile erhebt sich Ida gnädig, lässt TipToi und Buch auf den Boden fallen und geht. Fassungslos starre ich dem Kind hinterher. Draußen beginnt es heftig zu regnen. Dann höre ich Sand rieseln. Auf dem Weg zum Bad hat Ida noch schnell die Taschen ihres Kleides im Flur ausgeleert. Ich belle wüste Beschimpfungen und befehle ihr den Strand wegzusaugen. “Ja Papa, gleich! Ich muss jetzt erst duschen” Dann fällt die Badezimmertür ins Schloss.

Als ich gerade dabei bin, leise fluchend hinter Ida herzuräumen, höre ich die nächste Tochter unsere Küche betreten. Maries nackte Füße schmatzen über die Fliesen. Ich will gar nicht wissen wo sie sich wieder rumgetrieben hat, aber dieses Mal ist ihr letzter Aufenthaltsort kaum zu übersehen: “Du warst im Keller und hast Kinderschokolade gegessen. Wir haben dir das verboten!” Sie bestreitet den Vorwurf energisch. “Marie. Erzähl keinen Scheiß. Du hast Schokolade im Mundwinkel und an deinem Arm klebt die leere Schachtel!” Marie überlegt kurz und ergreift dann die Flucht. Sie sprintet in den Flur und rutscht auf Idas Sandhügel aus. Als Marie wieder steht und sich der Sandstaub gelegt hat, sieht sie aus wie ein rohes, paniertes Schnitzel. Das Schnitzel heult. Ich überwinde meinen Ekel, nehme es kurz in den Arm und schubse es dann zu Ida unter die Dusche. Wahrscheinlich wird der ganze Kindersiff den Abfluss verstopfen.

Ich muss nach Emil suchen. Emil geht oft. Einfach weg. Und sagt niemandem wohin. Seine Erfahrung hat ihn gelehrt: Wenn es eng wird, dann kommt schon jemand. Ich stehe in unserem Garten vor einem kleinen Erdhügel. Eines meiner Kinder hat wieder ein Loch in unseren englischen Rasen gebuddelt und den Aushub in meinen Weg geschaufelt. Allein, es fehlt das Loch. Ich werde nass und sauer. “Emil!”, brüllt ein aufgebrachter Vater wild durchs Dorf. Der kleine Erdhügel bewegt sich und steht dann auf. Feucht-modrige Erdklumpen bröckeln von den schmalen Schultern meines vierjährigen Sohnes. Emil hat, mit dem Rücken zu mir liegend, sein Feuerwehrauto durch den Matsch gespielt. Nur langsam erahne ich das Kind unter der zentimeterdicken Erdschicht. Es lächelt selig und stinkt höllisch. Nasse, dreckige Kinder riechen wie nasse, dreckige Hunde. Der Erdhügel ist glücklich und erfreut mich zu sehen. Die Umarmung kommt schneller als ich davonrennen kann. Jetzt klebt ein Sohn an meinem Bein. Ein kleiner, stinkender Junge, der vor Vergnügen gluckst. Menschlicher Sekundenkleber.

Mit Emil am Bein stoße ich die Badezimmertür auf und stolpere, auf der Suche nach dem Nagellackentferner, in den Badezimmerschrank. Im Hintergrund stehen meine Töchter, in Bademäntel gehüllt und amüsieren sich über meine Versuche, das lachende Kind von meinem Bein zu entfernen. Als alle Hausmittel und Chemikalien versagen, stelle ich uns unter die Dusche. Sehr zur Freude der Töchter. Sehr zum Leidwesen des Sohnes. Er duscht sehr ungern. Ich hoffe es ist ihm eine Lehre.

Irgendwann viel später sitzen wir alle zusammen und geduscht auf der Couch und hören gemeinsam ein TipToi Buch an. Bevor mir die Augen zufallen höre ich noch wie der TipToi belehrend den audio-digitalen Zeigefinger hebt: “… Klebstoffe sind kein Spielzeug…”

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